miromente 24

miromente 24  -  Juni 2011

 

MICHAEL KÖHLMEIER
Trägheit

MONIKA HELFER
Zorn

KIRSTEN HELFRICH
Lola

GEORG HADERER
Hotel Financia

AMREI WITTWER
Trilogie

DANIELA EGGER
Heimat, ein Monolog

MARKUS ORTHS
Wie is et?

WOLFGANG MÖRTH
Drei HeimatWortSpiele

 

 

LESEPROBE aus:

Trilogie

von Amrei Wittwer

 

Ein Zentimeter
»Ich sollte mich impfen lassen!« Ich rolle auf den Rücken und klatsche mit der Hand auf ihren Bauch. Meine Stimme klingt rau und belegt. Die Zigarette ist fast abgebrannt und Asche rieselt auf meine Kinderbettwäsche. Seit ich zwanzig bin, verwende ich sie wieder. »Wahrscheinlich ist es schon zu spät und ich bin bereits infiziert.« Ich fühle mich wie ein organisches Büffet. Manchmal wäre ich lieber aus Stein oder Metall, dann könnte nicht so viel passieren in meinem Körper. »Leider steigt das Risiko mit der Anzahl der gerauchten Zigaretten.« Sie liegt wieder ausgestreckt neben mir, gerade wie ein Lineal. »Hast du einen Stock verschluckt?« Ihr ist alles egal. Ich rauche am Filter. »Ich könnte den Verkehr und damit das Risiko einschränken.« Ich blase Rauch auf ihren Kopf, das stört sie nicht.
»Ich habe wieder von dem Meerschwein geträumt. Heute habe ich versucht, das Tier die Toilette hinunterzuspülen.« Das Meerschwein war einmal eine reale Persönlichkeit. Dem Tier wuchsen mit großer Geschwindigkeit spitze gelbe Nägel aus jeder Zehe. Diese Nägel musste ich als Kleinkind mit einer scharfen Nagelschere abzwicken. Das ging einige Zeit gut. Dann wuchsen die Nägel mit Superlichtgeschwindigkeit in die Zehenballen und das Tier mutierte zu einer armen, stinkenden Geschwulst. Es wurde eingeschläfert. Meine Eltern hätten es besser wissen müssen. Wer mit acht kein Meerschwein versorgen kann, sollte auch keine Schlange bekommen. Ich boxe ihr leicht in die Seite. »Immer- hin lebst du noch.« Doch sie rührt sich nicht vom Fleck. Ich setze mich auf und betrachte die Schlange in der Dämmerung. Stocksteif liegt sie neben mir. Die Haut hat einen seidigen Glanz und ihre Zunge stößt im Sekundentakt nach vorne. In Asien glaubt man, dass Kinder, die mit Schlangen befreundet sind, in ihrem vorherigen Leben die stolzen Töchter oder Söhne von Drachen waren. Wäre es ein Hund oder eine Katze, würde man dem Tier an die Nase fassen. Dann gilt die Nasenregel: feuchte Nase der Katze heißt krank, feuchte Nase des Hundes heißt gesund. Wie sollte sich eine Schlangennase anfühlen? Ich berühre ihre Nase, doch ihr Kopf zuckt zurück, bevor ich einen Eindruck bekomme. »Fakt ist, du verhältst dich falsch«, blaffe ich sie an. Sie sollte eingerollt im Bett liegen, so wie das seit über zehn Jahren zwischen uns üblich ist. Ich drücke die Zigarette am Kopfende aus und entschließe mich, die Schlange einzupacken und zum Tierarzt zu fahren, bevor ein neues Tier meinen Albtraum bevölkert. Die Schlange gibt ihre starre Lage auf und faltet sich in den Transportkäfig. Ich rolle den Käfig zum Auto. Wenigstens kann ich schon alles, telefonieren und Auto fahren. Weil ich immer zu früh aufwache, sind wir die ersten Patienten in der Tierklinik. Ich finde, dass Tiere eine bessere medizinische Versorgung bekommen als Menschen. Meine Schlange ist gegen alles geimpft, was nur möglich ist, während ich gegen nichts geimpft bin, was man sich durch zwischenmenschliche Kontakte einfangen kann. Dr. Tschann ist eine riesige Frau, ein Berg von einem Weib. »Wie alt ist Ihre Schlange?« »Soviel ich weiß vierzehn, wir haben sie dreizehn Jahre.« »Sie sieht gut aus, keine Hautrisse oder Milben, ein prächtiges Tier. Was fehlt ihr denn? Durchfall?«
Die Durchfall-Frage bekomme ich immer, wenn ich mit der Schlange beim Tierarzt bin. Dies scheint eine häufige Schlangenbeschwerde zu sein. »Nein, der Stuhlgang ist in Ordnung. Aber die Schlange schläft normalerweise zusammengerollt, bei mir im Bett oder in einem Korb. Seit etwa einem Monat hat sie damit aufgehört. Jetzt liegt sie nur noch gerade ausgestreckt.« Dr. Tschann betrachtet mich aufmerksam. »Wo liegt sie gerade ausgestreckt?« »Neben mir im Bett«.
»Wie groß sind Sie eigentlich?« Was tut das jetzt zur Sache? »Etwa eins achtundsechzig«, antworte ich brav. Dr. Tschann zieht ein Messband aus der Schublade und legt ein Ende an die Schwanzspitze. Sie rollt das Band über die ganze Schlange ab. Zeichnen die Schuppen helle Streifen auf einer schwarzen Schlange oder dunkle Muster auf einen hellen Körper? »Schlangen sind ein Mysterium. Man weiß wenig über ihr Verhalten, denn sie sind nachtaktiv«, sagt Dr. Tschann. »Die Schlange hat in den letzten Monaten begonnen, Ihre Körpergröße zu beobachten. Sie hat sich im Bett gerade neben Sie gelegt, um Ihre eigene Größe abzuschätzen. Sobald die Schlange groß genug ist, wird sie Sie erwürgen und verschlingen. Gerade misst sie eins siebenundsechzig.«