miromente 16

miromente 16  -  Juni 2009

 

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Das Tier und Schorsch

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Ein Klassiker mit Nebengeräuschen

DANIELA EGGER
Die Flutwellen

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Poesie International R.I.P.
 


LESEPROBE aus:

 

Das Tier und Schorsch
von Kai Metzger

 

Vor langer Zeit lebte bei einem Dorf jenseits der Stadt Lydda ein seltsa­mes Tier. Es war "zwanzig gute Männerschritte lang", wovon etwa ein Drittel auf den Schwanz entfiel, und es hatte "die Brust von drei Büffeln, den Rachen des Krokodils, die Pranken des Löwen, die zehnfache Haut des Leguans, den Rüssel des Schweins, die Ohren des Fenneks und den Blick des Kamels". - So die Quellen.

Das Tier hielt sich zwischen Tag und Nacht und zwischen Wald und Feld auf. Bauern, Hausierern und Holzsammlern war sein Anblick nicht ungewöhnlich. Die dörfliche Jugend unternahm Ausflüge, das Tier zu beobachten - eine Gewohnheit von Generationen. (Aus den Generatio­nen, kombiniert mit der Amtszeit eines in den Quellen erwähnten lyddäi­schen Gouverneurs, lässt sich die ungefähre Lebensdauer des Tieres schließen: Es wurde mindestens 188 Jahre alt, wahrscheinlich noch erheblich älter.)

Das Tier hat nie einem Menschen etwas angetan. Allenfalls verschluckte es verirrte Haustiere. Es fraß Aas, Früchte, in Notzeiten sogar Gras und Laub und verschmähte auch kleinste Happen nicht: Mit spitzer Zunge sammelte es Tausende von Schnecken, wann immer solche zur Plage wurden. Doch hauptsächlich griff es sich das Niederwild seines Ökotops: Rehe, Hasen, Klippschliefer, Eidechsen und so weiter. Seine braungrüne, sandpapiermatte Haut, die pflanzenhaften Verzweigungen eines Kamms auf Rücken und Schwanz und seine einmalige, den Beutetieren unbekannte Größe tarnten es in den Schatten- und Lichtflecken des Waldrandes. Gerühmt wird sein geduldiges, unangestrengtes Lauern - bis es auf die Beute zustieß. Sein Sprungvermögen, von starken Hinterbeinen beschleunigt, war beträchtlich; dass es habe fliegen können, wird von keiner Quelle behauptet. Auch vom Feuerspucken ist nicht ausdrücklich die Rede, vielmehr wird dem Tier präzise ein "Heißer Atem" zugeschrie­ben, der knapp hinreichte, auf kurze Distanz einen arglos vorüberfliegen­den Vogel aus dem Federkleid zu stoßen und zu betäuben, so dass er als leichte und gerupfte Beute zu Boden fiel - ein Kunststück, das mitanzu­sehen die Haupthoffnung jener jugendlichen Expeditionen war, abgese­hen von dem seltenen aber großartigen Schauspiel, wenn das Tier durch Druck mit der Brust und sein pures Gewicht eine Dattelpalme umlegte, um an die Früchte zu gelangen.