miromente 20

miromente 20  -  Juni 2010

 

MARBOD FRITSCH
100 Meisterwerke

AGNIESZKA PIWOWARSKA
Mai

PHILLIP RÖDING
Ableben

MONIKA HELFER
Urlaub am Nil

CONSTANTIN GÖTTFERT
Wir waren hungrig und aßen nicht
Zu groß

KURT BRACHARZ UND PAUL RENNER
Weder Fett noch Gold

JOHANNES WITEK
Gebete an den Alligator

ULRICH GABRIEL
Sonatensatzform

RASPUTIN GABRULOWITSCH
My home is?

 

LESEPROBE aus:

 

Mai
von Agnieszka Piwowarska

 

Ich liege im Bett und sollte schlafen. Ich kann es nicht. Ich lausche hinaus in die Nacht, der Atem meiner Familie ist wie ein Hintergrund, gleichmäßig, regelmäßig, draußen rufen sich die Nachtvögel etwas zu- ich höre den Wald, der nie ganz still ist, der immer etwas zu sagen hat und an den ich mich in den vergangenen vier Monaten gewöhnen musste. Ich weiß nun, dass das klopfende Geräusch vom Wind kommt, der flach, wie mit einer Hand, gegen die Zeltwand schlägt und von dem ich jedesmal zu Beginn wach wurde, weil es mich an das Klopfen aus der Stadt erinnerte, an das Klopfen an die Haustür, nachts, vor dem wir alle Angst hatten- wir Kinder und die Erwachsenen. Ich weiß nun, dass das Weinen der kleinen Eli vom Zelt nebenan nichts Schlimmes bedeutet und dass Tante Junta fast jede Nacht raus muss, um ihre Blase zu entleeren. Ich weiß, dass das schwere Atmen von den Erwachsenen kommt, die sich lieben, und sie lieben sich nun offensichtlicher, weniger verdeckt. Es gibt keine Schlafzimmertüren mehr, die geschlossen werden könnten, an denen wir doch so oft gestanden sind, in unseren Nachthemden, mit vorgehaltenen Händen an den Mündern, um das Kichern zu dämpfen. Und dann liefen wir auf leisen Sohlen ins Kinderzimmer, um zu würfeln. Wer die höchste Zahl gewürfelt hatte, dem gehörte der Ausblick durch das Schlüsselloch.

Die Erwachsenen sind überhaupt anders geworden, sie sind nachgiebiger mit uns, und manchmal verharrt ihr Blick so merkwürdig auf uns, mit einer Kraft und Schwere, wie wenn sich eine große Männerhand auf unsere Köpfe legen würde, und dann fragen wir oft: Was ist denn? Und sie sagen nichts, sie lächeln nur so ein seltsames Lächeln, das wir nicht verstehen können und das uns deshalb ein wenig Angst macht. Früher, noch in der Stadt, wenn zum Beispiel einer von uns krank wurde und die anderen sich Sorgen machten, oder wenn die Erwachsenen abends zusammen über einem großen Problem brüteten, dessen Inhalt wir zwar nicht kannten aber dessen Last wir wahrnahmen, dann sagten sie immer zu uns: Macht euch keine Sorgen. Alles wird gut. Aber als das alles hier begann, vor ein paar Monaten und wir aus der Stadt flüchteten, in den Untergrund gingen, wie mein Cousin mir sagte, wir und noch ein paar Familien, und als dann meine Cousine Inga im Wald fragte, ob alles gut wird und keiner etwas antwortete, da war uns Kindern, wie wenn sich der Boden unter unseren Füßen auflösen würde und wir versuchten in den Augen unserer Eltern wenigstens das Fünkchen einer Antwort herauszulesen-  aber wir sahen nichts. Zumindest nichts, was wir verstehen konnten. Und nie wieder seitdem haben wir die Frage gestellt, ob denn alles gut wird.

Zumindest ist alles anders und manchmal ist es auch ganz schön, jetzt vor allem, wenn die Tage länger werden und wärmer und wenn dies alles uns vorkommt, wie ein großes Abenteuer und der Wald ist wie unser eigenes Reich und hoffentlich wird es auch so bleiben und sie werden uns hier nie, nie finden und wenn alles vorbei ist, dann gehen wir zurück in die Stadt und das Leben wird wieder wie damals- bestimmt nicht mehr genauso wie damals, aber zumindest ein wenig.

Und die einzigen, die uns hier besuchen sind Arnd und Jaro aus der Stadt, die bringen uns die Lebensmittel und was wir sonst so brauchen. Natürlich bräuchten wir noch viel mehr, aber was sie bringen, das reicht, und an Tagen, wo es mir nicht gut geht, wo ich mich selbst ein wenig quäle, da male ich mir aus, dass sie vielleicht irgendwann nicht mehr kommen und wir dann verhungern, in unserem Wald.

Und dann sind da noch diese Menschen, manchmal Familien wie unsere, wir reden nie mit ihnen, mein Vater und mein Onkel nehmen sie dann mit und bringen sie über die Grenze. In die Sicherheit. Das ist sozusagen ihre Arbeit nun, Menschen in die Sicherheit bringen, aber eigentlich ist mein Vater Lehrer und meine Mutter auch.

(...)