miromente 47

Gedicht, Dialog, Miniatur, Kurzgeschichte: Diese Nummer enthält ein breites Spektrum an literarischen Kurzformen. Die Texte verdichten sich, steigern sich auf engem Raum, wie zum Beispiel Monika Helfers phantastische Erzählung Reportagen aus der Seele. Paul Ferstls unaufgeregter Erzählfluss in Via Flaminia wiederum trägt uns sanft durch die Landschaft Umbriens. Constantin Göttfert skizziert existentielle Begegnungen in wenigen Sätzen. Wolfgang Hermanns Miniaturen vereinen die Gegenwart mit Vergangenem in glasklarer Sprache. Kirstin Schwab wirft in wenigen Verszeilen gekonnt große Fragen auf. Johannes Witeks humorvolle wie ernste Gedichte schweben aufgrund ihres schlichten Stils. Christina Walker schildert eindrucksvoll die Begegnung zweier einsamer Menschen. SAID schreibt einen federleichten Dialog, der immer wieder beinahe abhebt, so zart ist er. Wir sind also zufrieden und hoffen, dass Sie, werte Leserin und werter Leser, unsere Begeisterung für nachfolgende Texte teilen.

Max Lang
(Redaktion)

miromente 47 – April 2017


WOLFGANG HERMANN
Altes Fenster

GABRIELE BÖSCH
Fingerhundszahngras und die
Stille dazwischen

PAUL FERSTL
Via Flaminia

SAID
unterwegs ohne flügel

CONSTANTIN GÖTTFERT
Die Arbeitswelt der Zukunft

KIRSTIN SCHWAB
Wortrahmen 

CHRISTINA WALKER
Duisburg – Dortmund

JOHANNES WITEK
Gedichte

MONIKA HELFER
Reportage aus der Seele



Leseprobe:

Das verborgene Haus
Wolfgang Hermann

Der Föhn rollt eine Welle aus Licht vor sich her. Ein weißes Wolkenband in Gestalt eines Leopardenfells zieht auf. Zwischen zwei Wolken ecken funkelt der Abendstern. Eine Windböe wirbelt Blätter im Kreis. Die Pappel am Teich spricht jetzt lauter. Das letzte Licht dehnt sich wie eine Kuppel über den Park. Davor die schwarzen Silhouetten der Bäume. Mit jedem ihrer Atemzüge schwindet das Licht, und unaufhaltsam sinkt die Nacht. Das Leopardenfell, eben noch rosafarben im schwindenden Licht, dünnt aus und erblasst. Mit einem Mal hängen die Misteln in der kahlen Platane wie übergroße schwarze Beeren gegen das fahle Wolkenband.

Ich gehe seit Stunden im Kreis, wobei ich lerne, mit geschlossenen Augen das Raunen der Blätter im Wind nach Baumart zu unterscheiden. Als ich die Augen öffne, ent- decke ich hinter einem Gebüsch im Herzen des Parks ein verborgenes Haus. Hundertmal bin ich daran vorbeigegangen, ohne es zu sehen. Ein Fenster ist erleuchtet.