miromente 5

miromente 5 - Oktober 2006

 

CHRISTIAN ZILLNER
Singsäng' vom Kontinent Niemandsland

WWW.BZV.AT
Werdi Walhat

KURT BRACHARZ
Pantomime vor Blinden

DANIELA EGGER
Glück und Unglück des Dr. He

GABRIELE BÖSCH
Der Anstoß
Kugelrot

WOLFGANG MÖRTH
Sperrfrist


(Mauszeichnungen von Ulrich Gabriel)



LESEPROBE
(aus: Daniela Egger - Glück und Unglück des Dr. He)

Herr He lebt in einem kleinen Dorf auf dem chinesischen Land als Arzt. Früher war er mehr oder weniger erfolgreich bei der Diagnose und Behandlung der Beschwerden seiner Patienten, die Leute kamen mit Schnupfen und ähnlichem zu ihm, er war akzeptiert in seiner Dorfgemeinschaft. Bei ernsten Erkrankungen fuhr man mit dem Bus ins nahe gelegene Lijiang, um dort im Hospital untersucht zu werden. Die chinesische Kräutermedizin konnte zwar starke Wirkung entfalten, aber ein Arzt musste wohl jahrelange Erfahrungen sammeln, um sie wirkungsvoll einsetzen zu können. Es gab im Land viele sehr berühmte chinesische Ärzte, Herr He gehörte nicht zu ihnen. Doktor He bekam mit den Jahren das Aussehen eines ehrwürdigen älteren Herrn, denn er war schlank und großgewachsen, besaß einen langen weißen Bart und ruhig blickende Augen. Er lebte unbehelligt von zu vielen Patienten in seiner kleinen Dorfstrasse, saß oft im Schatten vor seinem Häuschen oder im Teehaus gegenüber und rauchte seine lange Pfeife. Dann kam eines Tages ein Fremder in das Dorf und setzte sich müde von seiner Reise in eben dieses Teehaus. Sein Name war Bruce Chatwin. Doktor He machte einen Scherz zu seinem Nachbarn, als er bemerkte, dass der Reisende ein Notizbuch zückte und aufmerksam die Straße betrachtete. Auf der Straße war nichts weiter zu sehen als eine Bäuerin, die ein schweres Bündel Raps auf dem Rücken balancierte und ein Hausschwein, das seine Ferkel um eine Ecke trieb. Der Fremde schien an allem interessiert zu sein, deshalb beschloss Herr He, dass es jetzt an der Zeit wäre, seinen Tee einzunehmen und setzte sich an den Nebentisch. Der Fremde lud ihn mit einer Geste ein, sich zu ihm zu setzen. Der Dorfarzt wechselte an den Tisch des fremden Herrn und die beiden begannen ein Gespräch. Dieser Umstand brachte eine dramatische Wendung in das beschauliche Leben des Arztes eines unbedeutenden kleinen Dorfes am Rande des Himalaya. Nach dem Tee steckte der Fremde sein Notizbuch in die Jacketttasche und brach wieder auf. Herr He blieb noch ein Weilchen sitzen und betrachtete den Sonnenuntergang, ein bisschen verärgert darüber, dass sein Englisch nicht besser war und die Unterhaltung auf wenige Sätze beschränkt geblieben war. Der Reisende sprach einige Floskeln chinesisch, aber auch diese waren nicht aufschlussreich. Herr He hätte gerne gewusst, was in den Notizen stand, die Herr Chatwin sich während ihres gemeinsamen Tees eifrig gemacht hatte. Immerhin, den Namen hatte er sich gemerkt, denn es kamen nur selten Reisende aus dem fernen Europa in sein kleines Dorf, und er wollte seiner Familie davon erzählen. Bruce Chatwin aus England
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