miromente 62

In einem Jahr nach seinem Tod

Alle Texte dieser Nummer sind Kurt Bracharz gewidmet oder stammen von ihm selbst. Auch die Zeichnungen seines Freundes und Wegbegleiters Helmut King haben etwas mit dem Autor zu tun, denn die beiden teilten ihren Musikgeschmack miteinander, vor allem ihre Vorliebe für Frank Zappa. Dass die miromente eine jener Publikationsreihen ist, in die all das am ehesten passt, ist klar, denn Kurt Bracharz hat sie mitgegründet und war bis 2013 Mitglied der Redaktion. Als solches hatte er sich öfter eine Rubrik mit dem Titel »Varia« gewünscht, zu der es allerdings nie gekommen ist. Mit der Zusammenstellung dieser Nummer wäre er deshalb ziemlich sicher einverstanden, denn sie enthält, neben explizit literarischen Texten, allerlei anderes, wie zum Beispiel zwei Essays, zwei Briefe, eine Rezension und eine Rede, letztere im Jahr 2003 von Bracharz anlässlich einer Preisverleihung in seiner unnachahmlich trockenen Art über sich selbst gehalten.

Froh sind wir, für diese Nummer die wohl erste literaturwissenschaftliche Analyse zum Werk von Kurt Bracharz angeregt zu haben. Der Leiter des Franz-Michael-Felder-Archivs Jürgen Thaler widmete sich in seinem Essay Nadeln in Sprechblasen der journalistischen bzw. literarischen Arbeit der frühen Jahre des Autors und stieß dabei auf ein paar erstaunliche Texte. Der Autor dieses Editorials steuerte eine 2009 verfasste Rezension des damals gerade erschienenen Lektüretagebuchs Für reife Leser bei, und zwar, weil sie eine Liste von zwölf Büchern enthält, denen Bracharz (unter vielen anderen) einen entscheidenden Einfluss auf seine Haltung gegenüber der Literatur zuschreibt. Und Paul Renner, der seit den 1980er-Jahren zusammen mit Kurt Bracharz um den „kulinarisch aktionistischen Höhepunkt“ kämpfte, versuchte sich in einem kurzen Essay den Kopf seines Freundes unter dem Messer einer Guillotine liegend vorzustellen.

Die beiden jeweils mit Lieber Kurt betitelten Briefe stammen von Daniela Egger, der Mitbegründerin dieser Zeitschrift, und Christian Futscher. Beide ignorieren in ihren sehr persönlichen Nachrichten das Ableben des Adressaten und setzen damit nichts weniger als seine Unsterblichkeit voraus. Petra Nachbaur tut dies auch, indem sie Kurt Bracharz ein Denkmal in Form eines literarischen Experiments setzt. In ihrem Text beschränkt sie sich auf die in seinem Namen vorkommenden Vokale u und a und schafft es dennoch oder vielleicht deshalb, seinen Charakter verblüffend genau zu zeichnen.

Neben der oben erwähnten Rede über und von Kurt Bracharz enthält diese Ausgabe auch seine kurze, 2002 erstmals veröffentlichte Erzählung Fetonte fällt aus allen Wolken, in welcher der Protagonist die Zeit des freien Falls nach dem Sturz aus einem Flugzeug für ein bisschen Sightseeing über der Po-Ebene nützt.

Ursprünglich wollten wir noch den letzten Mailverkehr zwischen Kurt Bracharz und Peter Füßl abdrucken, belassen es aber dabei, hier auf den Ort hinzuweisen, wo dieser berührende Dialog erschienen ist, nämlich in der Februarnummer 2020 des in Vorarlberg erscheinenden Magazins Kultur, bei dem die beiden als Autor bzw. Herausgeber jahrzehntelang zusammengearbeitet haben. Für alle, die wissen wollen, wie sich zwei Gentlemen gebührend verabschieden, lohnt es sich, dort nachzuschlagen.

Wolfgang Mörth

miromente 62 – Februar 2021

 

HELMUT KING
BUT IT IS ART?

PETRA NACHBAUR
u. a. K.

CHRISTIAN FUTSCHER
Lieber Kurt

KURT BRACHARZ
Fetonte fällt aus allen Wolken

DANIELA EGGER
Lieber Kurt

 

JÜRGEN THALER

Nadeln in Sprechblasen

 

WOLFGANG MÖRTH
Im Netz von Anspielungen
 

PAUL RENNER

»Pourtant j’avais quelque chose là.«

KURT BRACHARZ
Rede zur Verleihung des Ehrenpreises
des Vorarlberger Buchhandels 2003


 

 

Rede zur Verleihung des Ehrenpreises des

Vorarlberger Buchhandels 2003 

von Kurt Bracharz

Meine Damen und Herren.
Als man mich vor einigen Wochen schonend darauf vorbereitete, dass diesmal ich den Ehrenpreis des Vorarlberger Buchhandels erhalten würde, stellte ich nach den wesentlichen Fragen - wie hoch er dotiert und ob er steuerfrei ist - die auch sehr wichtige, ob von
mir erwartet würde, dass ich eine Rede halte. Wie die Antwort ausfiel, sehen und hören Sie ja.

Die Rede ist nicht das Lieblingsgenre des Schriftstellers, er ist ein homme de lettres und nicht ein homme de phonemes, deshalb überlässt er sie gerne den Politikern. Wenn er aber muss, tut er, was er auch sonst immer tut: er geht in seine Bibliothek und sucht dort Trost und Rat.

Ich ging in meine Bibliothek, griff zum Kosmos-Naturführer “Was blüht denn da?” und schlug den Ehrenpreis nach. Das anspruchslose Gewächs füllt in diesem Standardwerk immerhin drei Seiten: der Ehrenpreis gehört zu den Braunwurzge wächsen, manche Unterarten sind giftig für Weidetiere, manche für Menschen. Es gibt den Quendel-, Gamander-, Bachbungen-, Wald-, Gauchheil-, Feld-, Faden-, Efeu-, Persischen und Großen Ehrenpreis. Alle heißen lateinisch Veronica, der Ehrenpreis des Vorarlberger Buchhandels müsste also nach meinen Küchenlateinkenntnissen Veronica commercii librorum Vörarlbergensis heißen. Die volkstümliche Bezeichnung ist übrigens “Männertreu”, anscheinend ironisch gemeint, denn zum Beispiel beim Gamander-Ehrenpreis fällt die blaue Blütenkrone schon bei der leichtesten Berührung ab. Wie meine Großeltern mütterlicherseits sind diese kleinen Unkräuter Migranten aus dem Osten. Bemerkenswert finde ich die Zangenbewegung des Persischen Ehrenpreises, der 1805 einerseits aus dem Botanischen Garten in Karlsruhe auswilderte und andererseits gleichzeitig über den Balkan einwanderte. Was diese Ehrenpreise empfanden, als sie sich in der Mitte trafen, wissen wir nicht.

Ich glaube, ich sollte den Witz nicht zu Tode reiten, schließlich bekomme ich hier keinen Kabarett-, sondern einen Literaturpreis. Wie halte ich es mit der Literatur? Die bedeutende, jedenfalls sehr populäre Kollegin Rowlings hat postuliert: “Eine Menge Bäume werden sterben müssen, bevor du etwas schreibst, das du magst.” Ich bevorzuge holzfreies Papier, also Lumpenpapier. Dann hieße das Motto, eine Menge Lumpen müssen sterben, bevor du etwas schreibst, das du magst. Da sind dann wohl die Nachrufe gemeint.

Apropos: heute mittag habe ich aus dem Radio erfahren, dass mir dieser Preis für mein Lebenswerk verliehen wird. Da möchte ich
dann doch sagen, dass ich noch nicht ganz fertig mit dem Werk und mit dem Leben bin.

Eine Aufforderung zur Lakonie stammt von Ludwig Wittgenstein: “Alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.” In drei Worten? Ich habe Hunger. Mir ist kalt. Ich mag nicht. Das wird es wohl nicht sein. Aber das sind ja auch jeweils drei Wörter und nicht drei Worte.

In einem wenig bekannten Buch (“Der Schattenfotograf”, München 1978) von Wolfdietrich Schnurre fand ich schließlich fünfzehn Thesen zum Thema Angewandte Schriftstellerei. Sorgen Sie sich nicht, ich habe sie stark gekürzt und lese nur vor, was sich mit meiner Ästhetik deckt:
“Wichtig ist, keinen literarischen Ehrgeiz zu entwickeln. Ehrgeiz zwingt zur Eingleisigkeit. Wirklich nur das zu schreiben, was Hirn, Herz und Laune als vorrangig empfinden.” (So kommt es zu den sechsjährigen Pausen bei meinen Buchpublikationen.)

“Sprunghaft wie eine intelligent funktionierende Assoziation.” (Wie diese Rede jetzt.)
“Man darf über sich selbst schreiben. Man kann auch Hauptperson sein. Aber man sollte nicht auf sich aufmerksam machen.” (Aus meinem Tagebuch erfahren Sie kaum etwas über mich.)
“Es genügt ein Leser; Auflagenhöhe und Rechtfertigung haben nichts miteinander zu tun.” (Eine Leserin wäre mir lieber.)
“Das wirklich Unangenehme für meinen Verleger ist: Mir genügen im Grunde die Belegexemplare.” (Das wirklich Unangenehme für meinen Verleger ist: Ich bin ein unsicherer Kantonist, was Abgabetermine betrifft.)
“Durchbruch: Ob es mir wirklich zum Nachteil gereicht, daß ich bei diesem Begriff zuerst an meinen Magen denke und dann erst feststelle, daß ich, wie Kritiker meinen, noch keinen literarischen hatte?” (Mein Magen verdaut noch jeden Hafaloab, bei Durchbruch denke ich an den Fußboden meines Bücherzimmers.)
“Ein Schriftsteller, der kein mieser Verrätertyp ist, ist ein mieser Schriftsteller.” (Woran ich dabei denke, möchte ich nicht verraten.)
“Schon sich erinnern ist Landesverrat. Denn man beschwört ja die Namen der Inseln. Jede Benennung: Rauchzeichen für Freibeuter und Okkupanten.” (Dann hat ja die beginnende Senilität auch etwas Gutes.)
“Am redlichsten sind die Vergeßlichen. Noch ein Indiz dafür, daß der Schriftsteller ein schäbiger Hundesohn ist: Er kann nur behalten.” (Das muss lange her sein, dass das gegolten hat, heute sind ja zumindest im deutschen Sprachraum gerade die literarisch besonders Inkontinenten am Ruder.)

Das alles hatte ich mir schon zurechtgelegt, als ich noch eine Befragung in klassischer Manier vornahm und mit einer Nadel in die Luther-Bibel stach, wodurch ich auf Matthäus Kapitel 5, Vers 37, stieß: “Eure Rede aber sey: Ja, ja, nein, nein; was drüber ist, das ist von Übel.”

Hätte ich das zuerst gefunden, dann hätte ich heute abend einfach gefragt: Bracharz, freust du dich, den Ehrenpreis des Vorarlberger
Buchhandels zu bekommen?, und hätte “Ja! Ja!” geantwortet, und weitergefragt: “Bracharz, willst du dem Publikum noch länger in den Ohren liegen?” Und die Antwort wäre gewesen: “Nein! Nein!”

Ich danke.

Kurt Bracharz