miromente 66

Ich freue mich, Ihnen wieder einmal eine reine Lyriknummer vorstellen zu dürfen. Wobei der Begriff Lyrik auf den der lyrischen Prosa ausgedehnt ist, was in der freien Metrik oft nur eine Frage des Zeilenumbruchs ist. Das heißt, die Trennung von Gedanken oder Bildern, bzw. der Rhythmus, in dem das Gedicht gelesen werden soll, ist durch die Einteilung in Verse meist deutlicher gekennzeichnet als in einem fließend gesetzten Text.

Eine andere Eigenart von zeitgenössischen lyrischen Texten, die ich bei dieser Gelegenheit erwähnen möchte, ist ihre Freiheit, sprachliche Konventionen und Regeln, wann immer es sinnfällig ist, zu brechen oder umzudeuten. „[A]ufgekratzte Rede / umgegrabene Syntax / Objekt Subjekt Prädikat / auskennt sich keiner“, kommt Armin Thurnhers Gedicht Aufstehen an einer Stelle ganz bewusst ins Stolpern. In einer Passage seines Textes Unterwegs in der Verformung, in der es heißt: „Wie du. Von der du denkst, arme mich um“, tut Ron Winkler Ähnliches, allerdings aus einem anderen Grund. Und auch Norbert Mayer gelingt es lediglich mit der kleinen Umstellung „dumme Schafe / haben beine: / zwei!“ sein zorniges Gedicht anantata ironisch auf den Punkt zu bringen. Am weitesten weg von den Regeln bewegt sich Katharina Klein in ihren Psychopharmaka Popsongs: „[D]ie gebügelte Wäsche bei der Affäre ich schlage mir Kopfweh und alle fallen aus dem Zug“, lässt Klein ihr lyrische Ich stammeln und nicht zufällig löst sich hier die Struktur der Sprache fast vollständig auf.

Wir bedanken uns bei allen Autor*innen für die Bereitschaft, uns Blicke in ihre Werkstätten werfen zu lassen. Norbert Mayer und Ron Winkler geben uns diese Möglichkeit nicht zum ersten Mal, von Katharina Klein war in der miromente bisher noch nichts zu lesen. Und ganz besonders freuen wir uns über die Teilnahme von Armin Thurnher, für den die Veröffentlichung seiner Gedichte – kaum zu glauben – eine späte neue Erfahrung ist.

Die Serie von „spontanen Pinselzeichnungen“ stammt von Christoph Abbrederis. Es handelt sich um die künstlerische Bearbeitung von Fotografien, die der Zeichner zu einer Auswahl von Momenten des Lebens seiner kürzlich mit 93 Jahren verstorbenen Mutter zusammengestellt hat. Eine der entscheidenden Fragen für ihn war dabei: „Was wollen die Menschen, wenn sie uns diese Fotos hinterlassen?“ Auch wenn es darauf wohl keine eindeutige Antwort gibt, war für Abbrederis eines klar: „Es wäre alles umsonst, wenn sich niemand fände, der diese wieder auflesen und sie für sich neu zusammensetzen würde.“

Wolfgang Mörth

miromente 66 – Februar 2022

 

 

CHRISTOPH ABBREDERIS
Ruth Zeichnungen

ARMIN THURNHER
Wetterbericht

RON WINKLER
Unterwegs in der Verformung

NORBERT MAYER
Gedichte

KATHARINA KLEIN
Psychopharmaka
0.1 Lux

 

Leseprobe:

Wetterbericht

von Armin Thurnher

Aufstehen

Den Atem eines fremden Gedichts
einziehen. Ans Klavier gehen,
die ersten Takte Con Moto spielen,
Schubert Deutsch 850.
Sich daran erinnern,
was man gestern vergessen hat,
den Namen Ottorino Respighis.
Ihn memorieren.
Den Körper absuchen
nach Wundmalen,
die über Nacht
zu bluten begannen;
sie salben.

An vergessene Obstsorten denken
und schiefe Satzstellungen,
diese Journalistenpest,
aufgekratzte Rede
umgegrabene Syntax
Objekt Subjekt Prädikat
auskennt sich keiner.
Auf Social Media feiern
buchstabengewandte Analphabeten
gerade wieder sich einander,
eine Formulierung,
die sie belächeln würden
selbstsicher banausisch.

Ich aber greife den Stabenstab,
buchstabengewandet
den Ich-aber-Greisenstab,
zu wandern und wandeln.
Sauerstoff nehme ich dankbar,
Mnemosyne misch ich zu Lethe,
lasse das Blut von Orangen gewandt
in Joghurtschalen fließen.
An Jugurtha denk ich und
den bitteren alten Cato, der
dem Senat eine Handvoll Feigen
hinwarf aus weißem Togagewand;
rachsüchtig, böse.

Das sanfte Schnurren von Dieselmotoren
kann Balsam für die Seele sein
in dieser Moderne. Ihre Automaten
werden besser komponieren
als Schubert und alt sterben, oder nie.
Manche wissen mit 25,
was sie mit 50 wollen,
ich weiß mit 70 noch immer nicht,
was ich mit 20 wollte.
Der Tod eines anderen weckt uns,
es ist nie zu spät
für einen guten Vorsatz.
Die Hölle kann warten.