miromente 67

Diese Nummer enthält unter anderem Geschichten von drei ehemaligen Preisträger:innen des Harder Literaturwettbewerbs, nämlich Kai Metzger (2009) Getraud Klemm (2012) und Joachim Off (2020). Darüber hinaus veröffentlichen wir eine Kurzgeschichte des Schweizer Autors Jürg Rechsteiner, der viele Jahre lang kompetentes Mitglied der Jury war. Diese Häufung hat zwei Gründe. Zum einen feiert der Wettbewerb heuer sein 40-jähriges Jubiläum. Zum anderen sieht es momentan so aus, als wollte die Gemeinde Hard den Wettbewerb nicht mehr weiter finanzieren und damit ein wertvolles immaterielles Kulturgut, das Hard in der deutschsprachigen Literaturszene einen klingenden Namen verschafft hat, dem Rotstift opfern. Ob es tatsächlich dazu kommen wird, ist bei Redaktionsschluss dieser Nummer allerdings noch nicht klar. Wir dürfen also noch hoffen.*

Im Gegensatz dazu ist die Existenz des Hohenemser Literaturpreises, der alle zwei Jahre für deutschsprachige Autor:innen nichtdeutscher Muttersprache ausgeschrieben wird, gesichert. Wir freuen uns, den Siegertext des letztjährigen Preisträgers Stefan Feinig, dessen Muttersprache Slowenisch ist, hier erstmals in gedruckter Form präsentieren zu dürfen.

Die visuelle Klammer bilden die Tuschzeichnungen des in Wien lebenden Vorarlberger Malers und Bildhauers Rouven Dürr. Es handelt sich dabei um großformatige Arbeiten, deren Herstellung neben der Fähigkeit, eine ästhetische Vorstellung konkret werden zu lassen, auch körperlichen Einsatz verlangten. Der Künstler selbst beschreibt diesen Akt als »durchaus aggressiv«. Weil sich die schwarzen Bänder zu Formen ohne Anfang und Ende schließen, erscheint dem Betrachter das Ergebnis gleichermaßen expressiv wie in sich ruhend.

Wir wünschen Ihnen anregende Erkenntnisse und Erfahrungen mit dieser Ausgabe.

Wolfgang Mörth

 

*Mittlerweile wurde bekannt gegeben, dass der Harder Literaturpreis auch im Jahr 2022 wieder ausgeschrieben wird.

miromente 67 – April 2022

 

 

STEFAN FEINIG
The ever-living ghost -
a new kind of landscape

ROUVEN DÜRR
Überlappende Bänder I - VI

GERTRAUD KLEMM
Korngröße

JOACHIM OFF
INNER*C1RCL3

JÜRG RECHSTEINER
Kleine Diebstähle

KAI METZGER
Titel wird nachgereicht

 

 

Leseprobe:

Korngröße

von Gertraud Klemm

Hat die Lagune immer schon so gerochen? So hinterrücks faulig, als würde man sie beim Sterben stören. Oder ist die Nase gealtert, mit ihr die Riechzellen, die Schleimhäute, das ganze Nerventeam und folglich die Empfindung? Der Gedanke verliert sich im Blick aufs Meer, in der Erinnerung an Sand.

Das Spüren ist nicht gealtert, als Einziges. Alle Sinne haben sich verschlechtert, trübe und verschwommen und randlos ist ihm die Welt geworden, aber das Spüren ist noch so klar wie früher. Immer noch nimmt die Haut jedes haptische Detail wahr, immer noch erinnern sich, wie jetzt, die Fingerkuppen, die auf dem Unterarm aufliegen, an die Straffheit, den Tonus des Bindegewebes darunter, das sich früher dem Druck widersetzte, wenn man hineinzwickte.
      Die Schmerzen verwässern naturgegeben vieles. Die Schmerzen und die Medikamente, sie weben ein Netz, das sich um die Wahrnehmung wickelt wie eine Mullbinde. Durch sie fühlt er die Wucht des Morgens. Die Unverbrauchtheit jeden neuen Tages, nannte Edith diesen Zauber. Praktisch veranlagte Edith, nichts konnte ihre jeden Winkel des Lebens ausfüllende Genussfähigkeit erschüttern. Er rechnet, langsam, mit geschlossenen Augen, seit 654 Tagen ist sie tot, denkt er, und der Trost lässt sich Zeit, die ich nicht mehr habe. Edith, im rechten Bildeck, klein, von hinten die Beine überkreuzt, der Strohhut schief auf dem Kopf. Edith, wo sind wir?

Roswitha stellt sich wohl schlafend, sie müsste schon längst wach sein, der Schlaf ist uns beiden nicht mehr gewogen, leider. Wenn er sich umdrehen würde, was viel zu aufwändig ist, würde er das flache Deckengebirge sehen, das sie im Bett aufwölbt. So wenig Platz braucht sie, ganz wie ihre Schwester. Zarter Körperbau, verhaltene Raumeinnahme, und dann auch noch über die Jahre geschrumpft, wie wir alle, denkt er, aber Edith verzwergte am schlimmsten. Wie sie im Sarg dann noch ein Stückchen kleiner wurde, als wäre sie von den Bestattern nicht nur gewaschen, geschminkt, frisiert und angekleidet, sondern auch noch unter dem blauen Tupfen-Kleidchen zusammengefaltet worden; das treibt ihm gleich Tränen in die Augen.
      Eine Erinnerung drängt nach oben, unkontrollierbar wie ein Brechreiz, ein verspätetes Frühstück in der Villa in Altaussee, ein Sommergewitter nähert sich grollend, Edith nackt in der Holzveranda, mit dem Rücken zu ihm im Türrahmen lehnend, Roswitha spielt im Obergeschoß Cello, sie übt einen verzagt klingenden Lauf, der zwischen Dur und Moll hin und her zappelt. Die Erinnerung versickert wieder, bevor er sie verorten und verzeiten kann. Ihre Knöchel im Wasser, sie steht reglos, zeitlos. Ist es wirklich Edith? Es ist kein Foto, es ist ein kitschiges Souvenir, das sie in der Innenstadt verkaufen, ein Bild, das aus geschichtetem Sand besteht.

Ist der Nebel früher auch so zäh über dem Meer gehangen? Mit diesem leichten Rosastich?
      Ich bin ein alter Mann mit nassen Augen, denkt er,
die den Horizont verwaschen, ich bin handverlesen aus dem Strom der Zeit aussortiert worden. Arbeit, Urlaub. Tag, Nacht. Ebbe, Flut. Sommer, Winter. Saisonstart, Saisonende. Alles ist zyklisch, nur ich bin aus diesen ewigen Kreisläufen herausgefallen, man hat mich gnädig ausgelöst und auf die Terrasse gesetzt. Was jetzt?
      Eine Möwe landet auf der spiegelglatten Wasserfläche, er erinnert sich an das Geräusch, wenn ein Vogel eine Schneise ins Wasser schlägt, aber er hört es nicht mehr. Habe ich es wirklich gesehen? Die Brille liegt in seinem Schoß.
      Wellen wären schön, richtige Atlantikwellen, denkt er. Die gegen die Küste brechen und an der Landmasse nagen, die alles bis auf grobe Steinblöcke fortgespült haben. Die Nordsee, die einem den Wind entgegenbläst. Nicht diese brackige Adria mit ihrer urinwarmen Lagune, die einem unterwürfig die Füße leckt. Nicht diese unbewegte, feuchtschwere Luft.

Die Kinder nahmen Rücksicht, auf uns, ohne uns zu fragen, und Rücksicht auf die Urenkel, ohne sie zu fragen, denkt er. Die Bedürfnisse der Alten und der Jungen sind scheinbar ähnlich, wie praktisch. So etwas Blödes muss jetzt in den Zeitungen stehen, auf so etwas Blödes kommt man nicht von selbst, nicht einmal Arthur. Manchmal wünscht er sich eine Art Demenz, die die Zwillinge zurücktauscht, im Kopf. Er wünscht sich nur dieses kleines Stückchen zu verblöden, gerade nur so weit, damit er Roswitha und Edith im Kopf zurücktauschen kann. Vielleicht wäre es besser gewesen, die beiden wären gleichzeitig gestorben, mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie gleichzeitig geboren wurden. Edith würde ihn für diese Sehnsucht schelten, ja mit Ignoranz strafen. Edith war für das Blumige, Samtige zuständig, für die Abendlichtstunden und Streichelmomente des Lebens. Nicht für die Buchhaltung, die Kinderkrankheiten, die Dressur der Bediensteten.

Viel zu sanft für Wahrheiten, viel zu verträumt für das starre Regelwerk unserer Zeit. Im Gegensatz zu Roswitha. Roswitha ist die Kennerin der Unterseiten, die Strafferin der Zügel, sie war geschaffen für die Rolle der Geheirateten, nicht die der Geliebten. Und ist es noch.
      Er kann Roswitha hinter sich hören, das Ächzen nach dem Aufwachen. Die Erkenntnis, dass sie alt geworden sind: für Roswitha kommt sie trotz ihres Zweckoptimismus scheinbar täglich aufs Neue und entlädt sich in diesem Ächzen, mit dem sie jeden Tag begrüßt, seit sie in den Siebzigern ist. Auch wenn sie sonst fit im Kopf ist, fitter als er, zumindest dort, wo es Sinn macht; um die unglaubliche Hässlichkeit des Alters als etwas Dauerhaftes anzuerkennen, fehlt ihr der Fatalismus. Ein kurzes Gejammer am Morgen, und dann auf ins Bad, auf in die Küche, auf ins letzte Lebensjahrzehnt, Augen zu und durch, mit diesem gnadenlosen Pragmatismus.
      Als würde noch etwas besser, wenn man so weit ist wie wir. Als müsse man sich dieser »alles wird gut«-Illusion, die ein ganzes Leben gehalten hat, nicht irgendwann entziehen, um die Würde zu bewahren. Ein Flüstern in mein Ohr, ich verstehe nichts, aber das macht nichts, die Härchen stellen sich auf, das Herz schlägt, das Wasser läuft mir im Mund zusammen.

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