miromente 80/81

Selbstverständlich hat niemand von denen, die an der Gründung dieser Zeitschrift beteiligt waren, nämlich Kurt Bracharz, Daniela Egger, Ulrich Gabriel, Wolfgang Mörth und der Schöpfer des Basislayouts Clemens Schedler, damit gerechnet, dass sie zwanzig Jahre später immer noch existieren wird. Es ist in Kreisen der Kulturschaffenden nicht üblich, in solchen Zeitspannen zu denken. Außerdem muss und kann nicht immer alles weitergehen, das würde dem natürlichen Lauf der Dinge widersprechen. Andererseits stimmt es zuversichtlich, dass ein Medium wie die miromente wider Erwarten Bestand hat, (Kenner der Materie gaben dem Projekt anfangs ein Jahr, vielleicht zwei). Gemeint ist ein derart anachronistisch analoges Ding, das auf den Postweg angewiesen ist, wo sich doch alles nur noch im Netz ereignet, weil dort das Liken so leicht geht und die Anzahl der Klicks als unwiderlegbarer Beweis für die Existenzberechtigung des Präsentierten gilt. Irgendetwas scheint also doch noch dran zu sein am Geruch bedruckten Qualitätspapiers, am Geräusch einer vorsichtig umgeblätterten Seite und dem leichten Hauch bewegten Luft der dabei zu spüren ist. Man möchte glauben, dass Menschen mit einem Hang zu diesen sinnlichen Erfahrungen, der Wahrheit näher sind als andere. Genauso, wie Menschen, die bereit sind, das Schicksal anderer Menschen in erzählter Form nachzuvollziehen, zu mehr Empathie fähig sein sollen. Auch die Lektüre (es genügt vielleicht schon das Abonnieren) der miromente trägt wahrscheinlich zum biochemischen Prozess bei, der in der Lage ist, unsere Gehirne in diesem Sinn zu transformieren. Zu verdanken ist das alles den Autorinnen und Autoren, die durch die Wahl ihrer Themen und die Gestaltung ihrer Texte dem Willen Ausdruck verleihen, die Welt nicht vollends der Willkür menschenverachtender und geldgieriger Planetenverwerter zu überlassen. Dreißig von ihnen sind in der Jubiläumsausgabe vertreten, und gäbe es keine physischen und finanziellen Grenzen, es wären noch weit mehr.

Was den Inhalt der hier abgedruckten Texte angeht, gab es keine Vorgaben, das heißt, was hier zu lesen ist, repräsentiert das, was die Eingeladenen gerade zum Schreiben bewegt. Das Besondere an der Nummer ist neben ihrem Umfang nur noch die Art der Bindung, und dass auf sechs farbigen Seiten eine Art Chronologie der editorischen Ereignisse zwischen die Literatur gemischt ist, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit, nicht einmal immer auf Sachlichkeit erhebt.

Wir wünschen wie gewohnt eine anregende Lektüre.

Wolfgang Mörth

miromente 80/81 – September 2025

 

 

CAROLOYN AMANN
Totentanz

SABINE BOCKMÜHL
Base Agnes

GABRIELE BÖSCH
Study for Life

KURT BRACHARZ
WOLFGANG MÖRTH
Alles paletti

DANIELA EGGER
My sister from another planet

CHRISTIAN FUTSCHER
Porzellanhochzeit

ULRICH GABRIEL
pario Paris

ANDREA GERSTER
Schlafende Wörterhunde

EGYD GSTÄTTNER
Überhaupt nicht

MONIKA HELFER
Sie wollten sich trennen

REINHARD KAISER-MÜHLECKER
Abgebrochenes Gedicht

KATHARINA KLEIN
dass die Wimpern verklebt vom Staub

GERTRAUD KLEMM
Nachtvogel

MICHAEL KÖHLMEIER
Der Schlüssel

MAX LANG
Serotone

MATHIAS MÜLLER
Anagrammgedichte

NIELS NUSSBAUMER
Warum tanzt sie?

MATHIAS OSPELT
Dr Förscht

ANDRÉ PILZ
Weine nicht

HANS PLATZGUMER
Schreibende und Schriftstellende

HANSJÖRG QUADERER
capricci

SARAH RINDERER
fernhell sehen

EVA SCHMIDT
Zorn und Scham

STEFAN SPRENGER
Pestlicht

MICHAEL STAVARIC
Worin liegt der Wert der Poesie?

TABEA STEINER
Schnelles Auto

LAURA VOGT
Das Jahr des Kalks

CHRISTINA WALKER
Schwimmen

PETER WAWERZINEK
an Celan reiben

RON WINKLER
Aufenthalte an der See

CHRISTIAN ZILLNER
Vavaria

 

Chronologie der editorischen Ereignisse

JAHR NULL
Bevor das erste Jahr beginnt, sitzen Kurt Bracharz,
Daniela Egger, Ulrich Gabriel und Wolfgang Mörth im
Hotel Martinspark in Dornbirn zusammen und über-
legen sich, wie die Zeitschrift heißen soll. Nachdem bei
der Suche nach einer sinnfälligen Bezeichnung lange
nur Unsinn herauskommt, beginnt Ulrich Gabriel unver-
mittelt Das Große Lalula von Christian Morgenstern
aufzusagen. Nachdem die ersten beiden Verse
der zweiten Strophe, nämlich

Hontraruru miromente
zasku zes rü rü?

verklungen sind, rufen alle gemeinsam: Das ist es!
So kam es zum sinnvollen Einsatz eines Beispiels
sogenannter Unsinnspoesie.


JAHR FÜNF
Die Zeitschrift wächst überraschend schnell und wird
Ende 2010 bereits an 526 Abonnenten verschickt,
was für eine Literaturzeitschrift erstaunlich viele sind.
Noch nicht absehbar ist zu diesem Zeitpunkt, dass
die Zahl danach, abgesehen von kurzen Erholungsphasen,
langsam, aber stetig zurückgeht. An den Herausgebern
kann es nicht liegen, auch nicht an den Autorinnen und
Autoren, und an den Abonnentinnen und Abonnenten
schon gar nicht. Woran also liegt es? Im Zweifelsfall immer
an den herrschenden Verhältnissen. Doch in einer Jubi-
läumsnummer sollten wir uns mit einem unerfreulichen
Thema wie diesem nicht allzu lang beschäftigen.


JAHR ZEHN
Dieser Jahrgang beginnt mit einer Nummer, die, so wie die
erste, ausschließlich Texte der Herausgeber und der
Herausgeberin enthält. Böse Zungen behaupten, das wäre
von Anfang an die inhaltliche Grundidee gewesen. Die
Juni-Nummer des zehnten Jahrgangs ist eine Kooperation
mit dem Harder Literaturpreis und ist den dort ausge-
zeichneten Kurzgeschichten gewidmet. Andere wichtige
Kooperationen mit Institutionen und Veranstaltern
werden folgen und bis in die Gegenwart andauern. Und
mit der Nummer 44 übernimmt Sarah Rinderer die
grafische Gestaltung, und zwar nach einem Basislayout,
das Clemens Schedler der miromente zum Einstand
geschenkt hat. Bis heute gilt sie als eine der schönsten
Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum.


JAHR FÜNFZEHN
Es ist das Jahr, in dem der Widerstand gegen eine finan-
zielle Unterstützung durch das Land Vorarlberg erlahmt
und ein entsprechendes Ansuchen bei der Kulturabteilung
in einen positiven Bescheid mündet. Damit wird die Über-
zeugung, eine Literaturzeitschrift müsse es schaffen,
sich in erster Linie mittels Abonnements zu finanzieren,
nicht endgültig verraten, allerdings fließt ab diesem Zeit-
punkt das Prinzip Selbstausbeutung nicht mehr im selben
Umfang in die Buchhaltung mit ein. Da im Jahr fünfzehn
von den vier Herausgebern nur noch einer übriggeblieben
ist, fällt die Entscheidung für eine öffentliche Förderung
des Landes, genauso wie alle anderen zukünftigen
Entscheidungen, einstimmig.


JAHR ZWANZIG
Nachdem Corona über den Planeten gefegt ist und nahezu
jedes Wort infiziert, maskiert und geimpft hat, ist es nun
die Debatte um die Künstliche Intelligenz, mit der sich
die Autorinnen und Autoren auseinandersetzen müssen.
Wird die KI in Zukunft die besseren Kriminal-, Liebes-
und Fantasie-Romane schreiben als der Mensch? Noch ist
die Entscheidung darüber nicht gefallen. Auch, ob im
Zeitalter allgemeiner Zerstreuung, eine Literaturzeit-
schrift wie die miromente noch genügend zur Konzentra-
tion fähige Leser für sich gewinnen kann, ist bisher
ungeklärt. Wie auch immer, am Ende des zwanzigsten
Jahrgangs erscheint eine umfangreiche Jubiläums-
nummer, die zu-gleich den Beginn der nächsten zwei
Jahrzehnte einleitet.


JAHR FÜNFUNDZWANZIG
Es ist entschieden, die KI schreibt Kriminalromane zumin-
dest genauso gut wie der Kriminalromane schreibende
Mensch. Deshalb wendet sich die menschliche Intelligenz
neuen literarischen Formen zu, die noch nicht in das
Trainingsprogramm der KI eingeflossen sind. Außerdem
boomen kleine, analoge literarische Medien wie die
miromente, die sich nicht scrollen, swipen und liken lassen,
und die deshalb das Radar der Verwertbarkeitskontrolle
elegant unterfliegen. Die Leserinnen und Leser der miro-
mente schätzen diese Tatsache, was dazu führt, dass die
Abonnentenzahlen Jahr für Jahr neue Höchststände
erreichen. Wer hätte das gedacht?